Mittwoch, 11. November 2015
Ich bin kein Gutmensch
Gestern war es dann so weit:
Meine Familie ist in unser Rathaus gepilgert, um den Stadtverordneten zuzuhören, die erklären wollten, wie das zusammenleben mit den Flüchtlingen, die nun alsbald die Turnhalle neben unseren Schulzentren beziehen, geregelt werden soll.
Ich darf zugeben, dass das Thema Flüchtlinge ein heißdiskutiertes Thema unter uns ist.
Ich habe in der Vergangenheit sehr gute Erfahrungen mit Angehörigen anderer Kulturen gemacht. Ich unterhalte Brieffreundschaften seit Jahrzehnten bis nach Taiwan, in meinen Trainingsgruppen waren und sind Angehöriger der verschiedensten Herkünfte.
Und Ich finde das wunderbar. Warum auch nicht? Wie armseelig wäre unser kulturelles Leben, wenn wir die Einflüsse nicht hätten?
Fangen wir beim Essen an, wer könnte sich die deutsche Gastronomie noch ohne Pizza, Pasta, Döner, Curry, gebratene Nudeln oder oder oder vorstellen?
Das globale Miteinander hat uns reicher gemacht.
Sonst gäbe es nur Steckrübensuppe.
Haha!

Erst als ich den vorletzten Satz geschrieben habe, ist mir die wunderbare Doppeldeutigkeit aufgegangen.
Das globale Miteinander hat uns reicher gemacht.
Der Gutmensch denkt an kulturelle Erweiterungen, neue Gesichtspunkte und Möglichkeiten für exotische Erfahrungen.
Ich - als notorisch böse Seele - komme dabei auch auf wirtschaftliche Ausnutzung, Plünderung der Resourcen ...
Kein Wunder, dass wir vor allen Schwankungen der chinesischen Wirtschaft zittern:
In den letzten Jahrzehnten war China so bequem, denn es hat uns neben so wundervollen Dingen wie Kung Fu, Taijiquan, Feng Shui und gebratene Ente auch ein Milliardenheer billiger Lohnsklaven geliefert, die uns den Konsum billig und schön geliefert haben - ohne dass wir Industriestaatler uns als Kolonialherren ein schlechtes Gewissen machen mußten. Wir haben das ja nicht angestellt sondern die chinesische Regierung selbst.
Jetzt operiert die Wirtschaft in China beinahe so wie unsere im Westen - und ZACK ist unser geliebtes Gleichgewicht, sprich auf unserer Seite übergewichtetes Ungleichgewicht in Gefahr.
Und alle haben Angst vor ...

China, IS, Russland, ... und Flüchtlinge.
Und Angst ist das bestimmende Thema.
Es ist eigentlich jedem klar, mit den Flüchtlingen kommen Menschen, die Angst haben.
Flüchtlinge stehen unter Spannung. Und diese entlädt sich, wenn sie in Massen zusammengepfercht sind und nichts zu tun haben - außer Angst zu haben, was weiter mit ihnen passiert.
Und sie kommen hier in ein Land, das auch schon Angst hat. Vor ihnen, vor dem Rest der Welt, vor allem vor der Veränderung.
Über Angst muß man also sprechen dürfen.

Helfen, Teilen, all das sind noble Tugenden - und jede Weltreligion hat das als zentralen Punkt für das Zusammenleben in ihrer Weltanschauung auch erkannt und eingebunden.
Aber das wird stets individuell betrachtet, also einer hilft einem einzelnen. Steht ein einzelner einer Menge gegenüber - hat er Angst.
Und Angst hilft nicht beim helfen wollen.
Wenn nun eine solche Situation eintritt und Hilfe und Unterstützung gefordert ist, dann ist es notwendig, sich auch mit der Angst derer zu beschäftigen, die helfen sollen.
Ich glaube nicht, dass es eine Sünde ist und man dafür in irgendeine Art Hölle kommt, wenn man diese Einsicht hat und sagt, darüber sollte man offen sprechen.

Tja, habe ich falsch gedacht, äh, geglaubt.
In der Versammlung, die ich oben ansprach, haben all die Gutmenschen den Ton angegeben. Und durch entsprechende Reaktion jede kritische Frage, die geeignet gewesen wäre, auch mal über die Angst zu sprechen, unterdrückt.
Man kommt offenbar doch in die Hölle, wenn man über die eigenen Ängste sprechen will. Und die Hölle ist kein ferner Ort, sie ist unter uns.
Wer kritisch fragen will, muß damit rechnen, aus der Gemeinschaft der Gutmenschen ausgeschlossen zu werden.
Und das ist jetzt etwas, vor dem ich wirklich Angst habe:
Wohin sollen sich Menschen mit ihrer Angst wenden?
Wenn die, mit denen man eigentlich Gemeinsamkeiten haben möchte, sich da abwenden - dann bleiben eben nur die anderen Kritiker ,..
Und schon beginnt die eigene Talfahrt in Richtung von Gesinnungen, mit denen man eigentlich nichts zu tun haben möchte:
Denn Pegida, AfD etc. haben sich genau darauf spezialisiert, diese Angst aufzunehmen, mit der eigenen Argumentation zu unterstützen ... unddiese Art Frontenbildung ist wirklich ein Grund, Angst zu haben.
Nicht Angst um unseren Luxus, um Überschüsse, um fremde Einflüsse ... Sondern Angst um etwas wirklich Wichtiges: Unser friedliches Zusammenleben.

Darum die Bitte an die Gutmenschen da draussen:
Sprecht bitte mit über Ängste ... Damit wir wieder gemeinsam uns den wichtigen Nöten des Helfens zuwenden können.
Es können nicht nur "gute Facharbeiter" unter den Flüchtlingen sein, die man so gerne schönredet. Schließlich sind wir doch auch nicht alle "Gutmenschen".
Also muß man doch ganz sachlich über die Probleme sprechen.
Sonst ist die Reaktion derer, die Angst haben: Wenn man unsere Ängste nicht wahrnimmt, dann fordern wir eben, dass nichts mehr ins Land kommt, was uns Angst macht.

Und dann verlieren wir wirklich all das positive, was mit dem interkulturellen Austausch zu uns kommen kann.