70 Jahre
Ich bin auf eigentümliche Hinweise gestossen:
"Erinnerungen als Waffe" heißt ein Beitrag, "Jetzt ist es aber mal genug" lautet eine andere Aussage.
Um was geht es? Vor 70 Jahren (am 27.Januar) wurde das Lager Auschwitz befreit. Und dieser Jahrestag wird zum Anlass genommen, sich über dieses Thema zu streiten. Der Zentralrat der Juden fordert, dass der Besuch einer KZ-Gedenkstätte Pflicht für Schulkinder werden müsse. Aus verschiedenen Lagern wird gekontert: Das ist so lange her, jetzt muss damit doch endlich einmal Schluß sein.



Womit denn "Schluß"?
Sich vor Augen zu halten, dass Menschen auf systematische Weise vernichtet wurden - und das in Anzahlen, dass IS und Boko Haram wie Anfänger im Terrorgewerbe dastehen?
Oder damit, dass - obwohl so lange Zeit vergangen ist - noch immer diese Themen totgeschwiegen werden?
Mein Vater war fünf Jahre am Ende des 2. Weltkrieges - nach unseren Gesetzen strafunmündig. Ich habe nichts verbrochen - und mein Sohn wird gerade 11, der hat es auch nicht verbrochen. Soll das ganze Holocaust-Thema also verschwiegen werden, weil die letzten drei Generationen nicht daran beteiligt waren?
Sicher gibt es genug Protagonisten, die Schuld aufbürden wollen (auf eben die Schultern, die eben verfügbar sind). Und ganz sicher ist die Intention dahinter nicht selten, den Beschuldigten auch jetzt 70 Jahre danach in Demut zu halten. In jeder Form von Unterhaltung ist der prototypische Nazi das Sinnbild des einheitlichen Bösewichts.

Fühle ich mich schuldig? Von den Anschuldigungen sicher nicht. Und belästigt von den Nazi-Bösewichten auch nicht. Ich fühle mich schuldig, wenn ich Verlogenheit über den Schrecken sehe. Egal, ob die Sieger des 2.WK ihre eigenen Untaten vertuschen, indem sie wieder und wieder auf die KZ's verweisen, egal, ob Nachbarn, Bekannte und Vorfahren im eigenen Dorf das Geschehene über Kriegsgefangene und politische Gefangene in der unmittelbaren Nachbarschaft totschweigen.

Es ist für mich unverständlich, wie Menschen, egal ob Journalisten oder Stammtischler, Schrecken, Gewalt und Tod aufrechnen wollen. Ist etwas weniger schrecklich, nur weil es 70 Jahre her ist? Ist es schrecklicher oder weniger schrecklich im Vergleich mit den Untaten der Gegenwart, nur weil der eine im Terror mehr als der andere umgebracht hat?
Vor 70 Jahren ist offenbar geworden, welches Grauen Menschen mit unverständlicher Ideoologie über andere Menschen gebracht haben. 70 Jahre sind vergangen, in denen immer weitere Gewalt auf die Sünden der Vergangenheit gehäuft worden sind. Und in der Gegenwart ist es noch immer so, dass Menschen sich damit brüsten, welches Grauen sie verbreitet haben und gerade verbreiten - weil sie die Macht haben, die richtige Ideologie oder Religion oder was auch immer.

Solange es diese systematische Gewalt noch immer in der Gegenwart gibt, solange darf nichts davon verschwiegen oder vergessen werden. Denn die Erinnerung ist das Mittel an dem gelernt werden kann, dass es einen besseren Weg geben muss.
Und solange die Menschen nicht gelernt haben, solange ist nicht Schluß damit, zu lehren und darauf hinzuweisen, dass Deutsche andere Menschen vernichtet haben. Es kann nicht lauten, nur die Deutschen waren es. Es muß lauten, auch die Deutschen haben es getan. Und das ist das Schlimmste an alle dem: Nicht nur, dass es diese Geschichte gegeben hat, sondern dass sich dieser Schrecken in die vielen Geschehnisse von Gewalt und Tod. Vor 70 und Jetzt. Und für die Zukunft sieht es genauso beschissen aus. Es ist eben nicht Schluß.